Lost Place: Oertelsbruch

Mitten im Thüringer Schiefergebirge findet man das Städtchen Lehesten und die drei Ortsteile Brennersgrün, Röttersdorf und Schmiedebach sowie die Siedlung Bärenstein. Südlich von Lehesten liegt der – in jeglicher Hinsicht total überbewertete – Rennsteig. Viel interessanter ist hingegen eine Exkursion zu den heimischen Schieferbrüchen. Einige Geocaches ermöglichen es dem Ortsunkundigen, den geschichtsträchtigen Oertelsbruch sowie die direkte Umgebung sehr intensiv zu erforschen. Weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt ist der Cache „Der Hausmeister vom Oertelsbruch“ (D4/T4). Während der recht tristen Hausmeistertätigkeit kann man noch weitere Geocaches (GC1PHGQ, GC19NPY, GC2F2V0 und GC1GV2E) "erledigen" und so einen Tag komplett auf diesem monströsen Lost Place in Thüringen verbringen. Leider berichten die Caches nichts über die Geschichte des auch als "Bruch Oertel II" bezeichneten Abbaugebietes. Diesem Missstand soll hier Abhilfe geschaffen werden.

Der Schieferabbau in Lehesten fand erstmals 1485 Erwähnung. Ab dem 18. Jahrhundert wurde der Abbau intensiviert und eine Vielzahl kleinerer Brüche entstanden. Zur Hochzeit zwischen 1850 und 1890 waren in der gesamten Region rund 2.500 Bergleute in über 40 Brüchen mit dem Abbau von Dachschiefer beschäftigt.

Die Unternehmerfamilie Oertel erwarb 1850 einige Brüche in der Nähe von Schmiedebach. Aufgrund der Innovationskraft und des Tatendrangs von Karl Oertel entwickelte sich das Familienunternehmen mit 860 Beschäftigten zum größten thüringischen Arbeitgeber in dieser Branche. Der heute als Oertelsbruch bekannte Bruch ist ein Zusammenschluss vieler einzelner Brüche, die Oertel über die Jahre erworben hatte. Die Lehestener Tagebaue (wozu der Oertelsbruch und der Staatsbruch zählen) gelten bis heute als die umfangreichsten Schiefertagebaue des europäischen Festlands.

Unter Karl Oertels Führung entstand rund um das Abbaugebiet eine moderne Infrastruktur. So wurden unter anderem ein Wirtschaftsgebäude mit Küche, ein Speisesaal, eine Bäckerei und eine Brauerei errichtet. Daneben wurden eine Bibliothek, diverse Werkstätten, wie bspw. eine Schmiede, Schlosserei, Wagnerei, ein Sägewerk und eine Zimmerei, eine Privatschule und ein Betriebskrankenhaus gebaut. Des Weiteren wurde ein Elektrizitätswerk in Betrieb genommen, so dass das Gelände noch vor Carl Zeiss Jena mit elektrischer Beleuchtung versorgt war. Auch wurde der Bruch 1886 an die neu errichtete Bahnstrecke Saalfeld - Lichtenfels angeschlossen.

Im Jahre 1903 starb Karl Oertel. Die darauffolgenden Jahrzehnte stehen im krassen Gegensatz zur einstigen Blütezeit des 19. Jahrhunderts. Im ersten Weltkrieg und während der Hyperinflation der 1920er Jahre kam der Schieferbergbau nahezu zum Erliegen. Im Jahre 1943 besiegelte die SS durch die Beschlagnahmung des Oertelsbruchs und die Errichtung des KZ-Außenkommandos "Laura" das endgültige Aus für den Abbau und die Weiterverarbeitung von Schiefer.

Aufgrund der Zerstörung der Heeresanstalt Peenemünde im August 1943 wurde die Raketenfertigung systematisch Untertage verlagert. Der Oertelsbruch stellte dabei das "Vorwerk Mitte" dar und sollte als Fertigungs- und Lagerstätte für V2-Raketen dienen. Das KZ-Außenkommando Laura beherbergte knapp 1.230 Kriegsgefangene, die als Zwangsarbeiter im Oertelsbruch tätig waren. Die Gefangenen erweiterten das Stollensystem, das in seiner maximalen Ausbaustufe 7 Kilometer lang war, über 54 Abbauräume verfügte und ca. 600 Quadratmeter umfasste. Bis zum Ende des Krieges wurden die V2-Raketen hauptsächlich getestet, Mängel behoben und für den Versand bereitgestellt.

Nach dem Ende des Krieges wurden die Anlagen von der sowjetischen Besatzungsmacht demontiert und das Stollensystem gesprengt. Bereits 1945 entstand der "VEB Vereinigte Thüringer Schiefergruben" (VTS) unter dessen Führung der über- und untertägige Abbau von Schiefer wieder begann und bis in die 1960er Jahre fortgesetzt wurde. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde der Bruch von der Gesellschaft "Vereinigte Thüringische Schiefergruben GmbH" wieder in Betrieb genommen. Bis Januar 2009 wurden Übertage Dach- und Plattenschiefer abgebaut. Seit der Schließung verfällt das Gelände zusehends und bietet dem geneigten Urbexer heute einen weitläufigen Lost Place über und unter Tage.

Interessant ist auch der Werdegang der Oertelsvilla, die sich auf dem Gelände in exponierter Lage befindet. Zunächst war sie Fabrikantenvilla, danach Kommandozentrale der Rüstungsfabrik und des KZ-Außenkommandos "Laura" und anschließend Lehrstätte für Schieferwerker. In den letzten Jahren diente sie als attraktive Quelle für Holz- und Schrottdiebe. So wurden gesamte Decken, Holzvertäfelungen und Stromkabel gestohlen.

Nachtrag

Das Jahr 2014 war kein gutes Jahr für den Oertelsbruch. Leider hat es hier einige unschöne Vorfälle gegeben, die wieder einmal mit Vandalismus und Brandstiftung in Verbindung stehen. Allein 2014 hat es zweimal auf dem Gelände gebrannt. Im Januar gab es einen eher unspektakulären Brand in einem der leerstehenden Gebäude. Im Mai kam es allerdings zu einem Großbrand. Über 70 Feuerwehrleute waren insgesamt 3 Tage mit Lösch- und Nachlöscharbeiten beschäftigt. Scheinbar gab es auch einigen Ärger mit der offiziellen Geocaching-Plattform, denn die meisten Caches rund um den reizvollen Oertelsbruch sind mittlerweile gesperrt oder archiviert - und das nicht (nur) wegen des Fledermausschutzes.

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