Kanada: Unterwegs auf dem wilden North Coast Trail

Gedankenverloren steige ich mit meinem schweren Tourenrucksack über rundgeschliffene, mit Algen überzogene Steine. Sie liegen zu tausenden am wenige Meter breiten Strand und warten heimtückisch darauf, dass ich ausrutsche oder mir in ihren engen Zwischenräumen den Fuß verdrehe. Meine Sicht ist stark eingeschränkt. Schuld daran ist nicht nur die Kapuze meiner hochwertigen Regenjacke. Sie sitzt wie eh und je zuverlässig schlecht und erzeugt unangenehme Geräusche, wenn ich meinen Kopf bewege und dabei mein borstiges Haar, mein dünner Bart und meine trockene Haut am steifen Material entlangkratzen. Es ist obendrein der dichte Nebel, der Allem die Farbe genommen hat, und der Wind, der mir unablässig Regen ins Gesicht peitscht.

Ich hänge meinen Gedanken nach, wundere mich über die Tatsache, dass es im Regenwald so feucht sein muss und übersehe dabei beinahe den ausgewachsenen Schwarzbären, der gut 30 Meter vor mir auf dicken Matten aus Tang auf der Suche nach Meeresdelikatessen ist. Ruckartig bleibe ich stehen und starre gleichzeitig fasziniert und besorgt auf das prächtige Tier. Meine Gefährtin schließt zu mir auf und schaut mich verwundert an. Schlagartig bin ich mir unserer Situation bewusst. Wenige Meter zu unserer Rechten schlägt das Meer wütend gegen die flachen Felsen. Zu unserer Linken – einen Steinwurf entfernt – erstreckt sich der undurchdringliche Regenwald. Unaufhaltsam trottet der Bär schnüffelnd in unsere Richtung. Aus unerfindlichen Gründen kommt für uns ein geordneter Rückzug nicht in Frage. Stattdessen glotzen wir wie blöde den Bären an und gehen nach kurzer Abstimmung lauthals in die Offensive.

        Ein Traum geht in Erfüllung

        Im Jahr 2007 haben wir unseren ersten marinen Trail auf Vancouver Island erleben dürfen. Eigentlich hatten wir es – wie so viele andere auch – auf den West Coast Trail (WCT) abgesehen, denn die Reiseliteratur pries das Abenteuer als konkurrenzlose, wilde und beschwerliche Herausforderung an. Leider – oder zum Glück? – konnten wir keinen der wenigen, begehrten Plätze ergattern und mussten mit dem leichteren Juan de Fuca Marine Trail vorliebnehmen. Da auf solchen Unternehmungen der sportliche Ego-Trip bspw. der Schnellste, Weiblichste, Weißeste oder Unausgerüstetste zu sein in den Hintergrund rückt, waren wir über die Alternative nicht unglücklich. Schon nach den ersten Kilometern faszinierten uns die wilde Schönheit des rauen Ozeans, die uns unbekannte Flora und Fauna, die Freuden der Selbstversorgung und die völlige Abgeschiedenheit. Von diesem unvergleichlichen Erlebnis angefixt, träumten wir für viele Jahre von weiteren marinen Mehrtagestouren und natürlich auch vom WCT, bis wir eines Tages den unscheinbaren North Coast Trail (NCT) entdeckten und in unser Herz schlossen.

        Zunächst zu den schnöden Fakten: Der North Coast Trail liegt im dünn besiedelten Norden von Vancouver Island im 1973 gegründeten Cape Scott Provincial Park. Hier findest Du ein 100km langes Wegenetz, wobei der eigentliche NCT 43 anspruchsvolle Kilometer misst. Von Trailhead zu Trailhead sind es 58km; besuchst Du zusätzlich Cape Scott, kannst Du die Tour auf 85km ausdehnen. Je nach Routenwahl bist Du für 5 bis 7 Tage im Territorium der First Nation "Kwakwaka'wakw" unterwegs. Dein Ausgangs- und Endpunkt ist Port Hardy, dass mit ca. 4.000 Einwohnern die größte Siedlung im Norden ist.

        Beim Lesen der Tourenberichte zum North Coast Trail fingen unsere Augen an zu leuchten. Auf Dich als hartgesottenen Abenteurer warten Schlamm und extrem steile, mit Seil gesicherte Küstenabschnitte, riesige Baumstümpfe, Wurzelballen und umgefallene Bäume, die alle mit Deinem schweren Gepäck überklettert werden wollen. Du bewegst Dich in einem gemäßigten Regenwald. Das Wetter kann durchwachsen sein und Starkregen, heulende Winde, Nässe und kriechende Kälte sind selbst im Sommer keine Seltenheit. Für uns Mitteleuropäer ist sicherlich das Wandern mit den Gezeiten völlig ungewohnt und mega spannend. Tatsächlich gibt es auf dem North Coast Trail einige Abschnitte, die nur bei bestimmten Wasserständen zugänglich sind. Es warten auf Dich unzählige wild-romantische Sandbuchten, die zum Übernachten einladen und für eine Nacht ganz allein Dir gehören. Probleme mit Feuerholz wirst Du nie haben. An den Stränden liegen unerschöpfliche Mengen Treibholz, wobei Du nach Zeder Ausschau halten solltest. Dieses Holz bekommst Du immer entzündet, selbst wenn es im Wasser lag. Zwei breite Flüsse musst Du mit handbetriebenen Seilbahnen überwinden. Außerhalb der Saison (Oktober bis April) sind die Seilbahnen leider abgebaut, was Dich zu lebensgefährlichen Flussüberquerungen zwingen würde und damit nur den Hartestten vorbehalten ist.

        Du befindest Dich in einem intakten Ökosystem und kannst eine Vielzahl wilder Tiere – wie bspw. Wale, Wölfe, Elche, Bären und Adler, aber auch Seelöwen und Robben – beobachten. Wenn Du entsprechend ausgerüstet und geschickt bist, kannst Du Dir zum Abendessen feinsten Lachs angeln und zubereiten. Das spart Dir einiges an Gewicht im ohnehin schon schweren Rucksack, denn Du musst für die gesamte Zeit ausreichend Verpflegung mitschleppen; es gibt keine Möglichkeit, Deine Vorräte aufzustocken. Du triffst während Deines Abenteuers nicht nur auf kulturelle Hinterlassenschaften der Kwakwaka'wakw, sondern entdeckst verfallene Hütten und Siedlungen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach entbehrungsreichen Jahren aufgegeben wurden. Falls Du Geocacher sein solltest, freust Du Dich ganz bestimmt über die hochwertigen Caches, die im Park versteckt sind. Und das Beste an der ganzen Sache: Der North Coast Trail ist nicht überlaufen und verfügt dadurch über kein Reservierungssystem. Du bist die meiste Zeit allein unterwegs und kannst flexibel auf einem der 19 grandiosen Campsites übernachten.

        Für uns gab es bei diesen Aussichten kein Halten mehr. Im August 2016 sollte es nach Jahren des Träumens und Planens endlich soweit sein. Gut ausgerüstet reisten wir in den Westen Kanadas und gönnten uns den North Coast Trail.

        Das muss unbedingt in Deinen Rucksack

        Weil wir uns auch immer wieder – selbst vor Ort – über das fiese Wetter gewundert haben: Du bist in einem gemäßigten Regenwald unterwegs. Der Norden Vancouver Islands ist mit 2.650mm Niederschlag die regenreichste Region British Columbias. Es regnet hier durchschnittlich 17 Tage im Monat, wodurch oftmals knietiefer Schlamm im Wald auf Dich wartet. Die Durchschnittstemperaturen liegen selbst im Sommer bei frischen 13°C. Windgeschwindigkeiten bis 100km/h sind nicht selten. Die Monate Juli und August können wir aus persönlicher Erfahrung empfehlen; sie sind am wärmsten und trockensten. Dein gepackter Trekking-Rucksack sollte maximal 30% deines Körpergewichtes betragen und mindestens das Folgende für diese Tour beinhalten:

        • warme Klamotten und Regensachen - Sei auf jedes Wetter vorbereitet!
        • knöchelhohe A/B Schuhe und Gamaschen - Halte deine Füße trocken. Plastiktüten um die Schuhe oder Flip Flops sind hier keine Option, selbst wenn es immer wieder Wanderer gibt, die das ausprobieren.
        • Foto der Gezeiteninformationen - Beschäftige Dich intensiv mit den Wasserständen und achte darauf, dass Du Dein Zelt über der Flutlinie aufbaust.
        • Satelliten-Telefon oder Funkgerät - Du bist weitab jeglicher Zivilisation. Dein Smartphone geht hier nicht. Du kannst in Porty Hardy ein Funkgerät mieten. Oder schau Dir mal die Garmin inReach Lösung an.
        • Axt - Du willst definitiv Holz hacken.
        • Wasserfilter - Das Wasser kann hier in Abhängigkeit vom Niederschlag recht sedimentreich sein. Außerdem willst Du keine Amöben mit nach Hause bringen.
        • Tarp - Neben Deinem Zelt solltest Du ein Tarp dabei haben, um die Ausrüstung trockenhalten und am nächsten Morgen bequem packen zu können.
        • hoch-kalorisches Essen - Wir dörren Wochen vor unseren Trips Zutaten für leckerstes Essen wie Pizza, Chili sin Carne, Polenta-Schnitten und Pasta. Dörren und anschließendes Vakuumieren reduziert das Gewicht Deines Essen um 90% und spart sehr viel Platz im Gepäck. Saucen kannst Du auch dörren und als Pulver mitnehmen.
        • KEIN Food Cache Rope - Wir haben bewusst auf ein entsprechendes Seil verzichtet, da an jeder Campsite Bear Locker vorhanden sind.

        Auf in den einsamen Norden

        Unser Abenteuer beginnt Ende August in Vancouver. Wir sind gerade zurück aus den Rockies und brechen früh am Morgen mit unserem Mietwagen Richtung West Vancouver/ Horseshoe Bay auf. Wir haben uns für die Fähre um 10.40 Uhr nach Nanaimo/ Departure Bay entschieden. Mit ausreichend Puffer gelangen wir zum Terminal und stellen uns geordnet in die lange und mehrspurige Schlange. Während der Wartezeit kaufen wir am Straßenrand von einem freundlichen Farmer leckere, frisch geerntete Himbeeren und Brombeeren. Gut so, denn auf der Fähre gibt es zwar alles, was das Herz begehrt, doch die Preise sind unverschämt hoch. Anstatt uns dem unsäglichen Kommerz hinzugeben, sitzen wir mit dicker Jacke entspannt auf dem Oberdeck und genießen die Weite des Pazifiks. Nach gut 1h und 40min Fahrzeit erreichen wir ausgeruht Nanaimo.

        Nun beginnt die etwa 4,5h lange Autofahrt auf dem Highway 19 Richtung Norden. Unser Ziel ist das 400km entfernte „North Coast Trail Backpackers Hostel“ in der Granville Street in Port Hardy, wo auf uns ein Deluxe Double Private Room für 55 € wartet. Auf dem Weg Richtung Norden passieren wir zahlreiche, gut ausgeschriebene „Recreation Sites“, die über große Parkplätze, Picknick-Tische und schöne Bademöglichkeiten verfügen und sich so perfekt für einen kurzen Zwischenstopp eignen. Die letzte Adresse für wichtige Besorgungen ist das beschauliche Städtchen Campbell River, das etwa auf halber Strecke liegt. Ab jetzt solltest Du Deine Tankanzeige im Blick behalten, da nur noch selten Dörfer und noch seltener Tankstellen kommen.

        Falls Du ein bisschen mehr Zeit mitgebracht hast, solltest Du unbedingt den „Nimpkish Lake Windsurfer’s Campground & Recreational Trail“ besuchen. Hier findest Du einen unglaublich schönen See, der zum Fischen, Surfen, Paddeln, Wandern und Cachen einlädt. Wir verbringen hier ein paar Stunden, schauen den Surfern zu und genießen die Ruhe dieses wunderbaren Ortes. In der Abenddämmerung erreichen wir zufrieden das verschlafene Fischerstädtchen Port Hardy. Keine Menschenseele ist auf den breiten Straßen unterwegs. Alle Geschäfte inklusive unseres Hostels sind geschlossen. Ein kurzer Anruf bei den Eigentümern genügt und 10 Minuten später sitzen wir in unserem Zimmer. Ein letztes Mal duschen, noch einmal das Gepäck prüfen und arrangieren und dann voll Vorfreude ab in die Koje.

        Tag 1: Shushartie Bay bis Nahwitti Bay

        Der Wecker klingelt viel zu früh, doch irgendwie sind wir schon wach. Schnell ziehen wir uns an, packen die letzten Utensilien, verstauen nicht Benötigtes im Auto und werden freundlicherweise vom Eigentümer des Hostels mit seinem Pick-up zur Quarterdeck Marina gebracht. Dort treffen wir nicht nur zwei weitere kanadische Aspiranten des NCT, sondern auch Babe. Sie ist die Chefin von „Cape Scott Water Taxi“ und sowohl Eigentümerin der 660 PS starken „Sea Legend I“ als auch des „North Coast Trail Shuttles“. Unkompliziert regeln wir alle Formalitäten, besprechen die Rückreise und bezahlen sowohl die $180 pro Person für den Transport (Boot und Van) als auch die Gebühr von $10 pro Person, die für jede Nacht im Cape Scott Provincial Park anfällt. Wir hatten bereits alles von zu Hause aus reserviert, was problemlos über die Website ging. Das beschleunigt definitiv den Prozess vor Ort und garantiert Dir einen Platz an Bord.

        Wir haben uns – wie die meisten Wanderer – dazu entschieden, den North Coast Trail von Ost nach West zu absolvieren. Damit ist die 35km entfernt liegende Shushartie Bay unser Ausgangspunkt. Diese Laufrichtung hat den Vorteil, dass Du das Wassertaxi als limitierende Komponente gleich am Anfang hast. Endpunkt ist damit der Cape Scott Trailhead. Falls Du dort Dein Shuttle verpassen solltest, kannst Du versuchen, per Anhalter von diesem recht großen und gut besuchten Parkplatz zurück nach Port Hardy zu gelangen. Außerdem bringst Du die schwierigeren Abschnitte des NCT gleich zu Beginn hinter Dich. Solltest Du dort etwas länger brauchen, kannst Du immer noch optionale Wanderungen im Westen – bspw. zum Cape Scott Lighthouse – auslassen. Für die letzte Nacht ist San Josef Bay die bessere Wahl. Gegen die Shushartie Bay spricht, dass es keine Süßwasserressourcen in der Nähe gibt, außer einen kleinen Wasserfall, den Du nur bei Ebbe erreichen kannst. An der San Josef Bay findest du dagegen reichlich Frischwasser und bist sehr nah am Parkplatz, wo das Shuttle Dich abholt. So kannst du eine entspannte Nacht in der wunderschönen San Josef Bay verbringen und am Morgen ohne Hast die letzten 2km zum Treffpunkt laufen. Wenn Du ganz wild drauf bist, kannst Du den 420m hohen, recht verwachsenen Mount St. Patrick am frühen Morgen besteigen und unterwegs zwei anspruchsvolle Caches suchen.

        Pünktlich um 7 Uhr verlassen wir mit der Sea Legend I gemütlich tuckernd Port Hardy. Kaum liegt das Hafenbecken mit seinen zahlreichen Fischerbooten hinter uns, dreht der Skipper die Volvo-Zwillingsmotoren voll auf. Mit einem Mal schießt unser Boot über die spiegelglatte See. Wir stehen frierend im Heck und schauen hoffnungsvoll aufs Wasser. Bestimmt kannst Du während der Fahrt zur Shushartie Bay Meerestiere beobachten und die Uferlinie bestaunen. Doch diese Freude bleibt uns aufgrund des dichten Nebels die meiste Zeit verwehrt. Nach gut einer Stunde monotoner Fahrt erreichen wir die kleine Bucht. Mit gedrosseltem Tempo steuern wir auf das rechte, felsdurchsetzte Ufer zu. Ich sehe gerade noch einen Bären im dichten Wald verschwinden, als unser wortkarger Skipper sich den kläglichen Satz abmüht: „Get off the boat“. Aus irgendeinem Grund muss ich glucksen, bleibe aber stehen. Dann dämmert mir, dass er es ernst meint. Einen Steg gibt es – warum auch – nicht. Wir sind mehrere Meter vom Ufer entfernt. Schnell schultern wir unsere Rucksäcke, balancieren an der Kabine vorbei zum Bug, klettern hinab ins Wasser und stehen keine 3 Minuten später allein in der Wildnis.

        Unser beiden kanadischen Begleiter– scheinbar im Sportmodus – sind im Nu verschwunden. Wir werden ihnen nicht wieder begegnen. Für einen Moment lassen wir die Umgebung auf uns wirken. Vor zwei Jahrhunderten gab es in der Shushartie Bay einen florierenden Handelsposten, zu dem sogar ein Pfad von Port Hardy aus führte. Heute ist es hier einfach nur still und Du fühlst Dich wie ein Eindringling. Einzig die massive, hölzerne Tafel, die uns im Cape Scott Provincial Park begrüßt, ist ein Zeichen der nahen Zivilisation.

        Der Einstieg in die erste Etappe, die ca. 11km lang ist und 6 bis 8 Stunden dauert, ist gleich doppelt spannend. Hinter der Tafel geht es für etwa 30Hm steil nach oben. Noch sind wir nicht an die schweren Rucksäcke gewöhnt, so dass wir etwas wackelig am Seil aufsteigen. Oben angekommen haue ich sogleich meinen Rucksack in die Ecke und kann nach dem ersten, genialen und sehr selten gefundenen Cache suchen. Tatsächlich werde ich im Nu fündig und lege die folgenden Kilometer mit einem breiten Lächeln im Gesicht zurück. Auf uns warten neben weiteren steilen Abschnitten mit Seilen, Leitern oder schmierigen Stufen auch von der Sonne ausgebleichte Boardwalks, die sich durch ein einzigartiges Hochmoor schlängeln. Irgendwann treffen wir auf einen unscheinbaren Pfahl, der die halbe Wegstrecke des Inlandtrails markiert. Die Sonne scheint, der Boardwalk ist trocken und wir haben alle Zeit der Welt, was uns dazu veranlasst, hier ausgiebig zu rasten. Bei Nässe ist die erste Etappe hart, denn dann musst Du Dich durch tiefen Schlamm quälen. Doch das bleibt uns heute erspart.

        Die erste nennenswerte Herausforderung müssen wir kurz vor dem Ozean am Skinner Creek in Form eines überdimensionales „Göttermikados“ meistern. Riesige Bäume wurden von den Herbststürmen zu Dutzenden wild übereinandergeschichtet, so dass wir mühevoll unter ihnen hindurchkriechen, auf ihnen entlangbalancieren oder über sie hinwegklettern müssen. Skinner Creek ist der erste Strand, an dem Du die Nacht verbringen könntest. Leider belagern in unserem Fall hunderte Möwen das Areal und alles inklusive des Creeks – der als Trinkwasserquelle dient – ist voller Kot. So ziehen wir weiter zur Nahwitti Bay und sollen unsere Entscheidung keinesfalls bereuen. Bei sehr hoher Flut – was bei uns nicht der Fall ist – kann West Skinner Creek Beach unpassierbar werden. Allerdings ist eine etwas längere, rauere Inlandroute verfügbar, die an einer verlassenen Hütte mit gut erhaltener Innenausstattung vorbeiführt.

        Nahwitti Bay ist traumhaft und perfekt ausgestattet. Im Schutz dichter Bäume findest Du vier Podeste, wo Du bequem Dein Zelt aufstellen kannst. Es gibt Bear Locker für Dein Essen, Toiletten und etwas westlich findest Du Frischwasser. Bei Flut musst Du unbedingt etwas weiter flussaufwärts Richtung Seilbahn laufen, da Du andernfalls Salzwasser entnimmst. Der steinige Strand von Nahwitti Bay ist zwar windig, aber dafür viel sauberer als Skinner Creek. Wir fühlen uns hier sofort wohl, bauen unser Zelt auf und genießen einsam und allein einen fantastischen Sonnenuntergang bei bestem Essen am Lagerfeuer.

        Tag 2: Nahwitti Bay bis Cape Sutil

        Heute steht ein recht kurzer Abschnitt mit 5,6km bzw. 4 bis 5 Stunden auf dem Programm. Allerdings müssen wir die Gezeiten beachten, denn es gibt Abschnitte bei Tripod Beach, die wir nur bei Ebbe passieren können. Eine Alternative über das Inland existiert hier nicht.

        Der Tag beginnt spannend mit einer 50m langen, handbetriebenen Seilbahnfahrt. Etwas aufgeregt folgen wir dem idyllischen, uns bereits vom Wasserfiltern bekannten Weg entlang des Nahshutti Creeks und stehen bald am 3m hohen Podest der Seilbahn. Theoretisch kannst Du die Seilbahn auch zu zweit benutzen, doch wir entschließen uns vor allem wegen der sperrigen Rucksäcke einzeln den Fluss zu überqueren. Die erste Hälfte der Fahrt bis zum Tiefpunkt dauert 5 Sekunden, ist rasant und vollkommen unkritisch. Für die zweite Hälfte hinauf zum gegenüberliegenden Podest benötigen wir gut 2 Minuten. Trotz gegenseitiger Unterstützung brennen uns die Arme für eine Weile.

        Kurz hinter der Seilbahn stoßen wir auf ein längst verlassenes Dörfchen mit einigen verfallenen Hütten, die von europäischen Siedlern erbaut worden waren. Für mehrere Kilometer geht es nun durch atemberaubenden Regenwald, der immer wieder durch kleine Buchten und winzige Landzungen unterbrochen wird. Bojen in den Bäumen weisen uns den Weg, obwohl es nahezu unmöglich ist, dass Du Dich hier verläufst. Wir genießen die genialen Fernblicke und erfreuen uns an der marinen Flora und Fauna. Besonders gefallen uns die Gooseneck Barnacles (Entenmuscheln), die an den Rändern der unzähligen Gezeitentümpel haften.

        Wie geplant erreichen wir bei einem günstigen Wasserstand Tripod Beach und entdecken den eindrucksvollen Basaltbogen, der von der Brandung als Dreifuß ausgehöhlt wurde. Falls Du hier bei Flut ankommst, solltest Du keinesfalls durchs Wasser waten oder gar schwimmen, denn hier herrschen gefährliche Strömungen. Ist es für Dich absehbar, dass Du im dunklen Weiterwandern müssest, bau Dein Quartier oberhalb der Bucht auf und warte – aufgrund des anspruchsvollen Weiterwegs – den nächsten Tag ab. Keine Sorge, hier gibt es reichlich Frischwasser.

        Der finale Akt vor Cape Sutil ist noch einmal spannend. Steil steigen wir an einem Schiffstau auf, erreichen einen schmalen Grat und seilen auf der anderen Seite sofort wieder zum Strand hin ab. Das Unterfangen ist recht anspruchsvoll, da der Einstieg in den fast 60 Grad steilen Hang von einer riesigen Wurzel blockiert wird und der lehmige Boden extrem rutschig ist. Alles geht gut und wir stehen kurze Zeit später am nördlichsten Punkt von Vancouver Island. Das Kap selbst ist ein Reservat der Nahwitti First Nation und soll nicht betreten werden. Das ist auch nicht nötig, denn entlang des schmalen Strandes von Cape Sutil hast Du ausreichend Platz für Dein Zelt und findest viele überhängende Bäume, die Dir einen guten Windschutz bieten. Frischwasser, einen Bear Locker sowie Toiletten gibt es direkt beim Camp. Wir machen es uns im Sand gemütlich, bereiten leckere Pfannenpizza auf offenem Feuer zu und verstecken nebenbei einen eigenen T5er Geocache.

        Tag 3: Cape Sutil bis Shuttleworth Bight

        Der etwa 7,2km lange Abschnitt bis Shuttleworth Bight ist in unseren Augen der schönste Teil des North Coast Trails. Bei Deiner anstrengenden 4 bis 6 stündigen Wanderung bist Du die meiste Zeit des Tages an atemberaubenden Stränden unterwegs und gelangst zu besonders wilden Buchten. Auf halbem Weg findest Du eine geographische Besonderheit in Form eines „Tombolos“. Dabei handelt es sich um einen schmalen Dünenstreifen, der eine Insel mit dem Festland verbindet und durch Wellenbrechung geformt und stetig verändert wird.

        Beim Aufstehen ahnen wir nicht ansatzweise, welch ein phänomenaler Tag vor uns liegt. Ganz im Gegenteil, denn der Himmel ist stark bewölkt, es ist kalt und die Außenhülle unseres Zeltes ist vom nächtlichen Regen nass und extrem sandig, was das Einpacken zu einer großen Schweinerei werden lässt. In Ruhe genießen wir unser fulminantes Frühstück und brechen unser Camp routiniert ab. Spätestens jetzt befindet sich unser Körper in einer Phase ständigen Hungers, so dass keine Portionsgröße es mehr vermag, den Hunger auch nur ansatzweise zu bändigen. Mit unserem Aufbruch ändert sich allerdings unser Fokus und das Hungergefühl wird zur Nebensache. An den Stränden und am nahen Wald hängen dicke Nebelschwaden, die unsere Umgebung mystisch – ja beinahe gespenstisch – erscheinen lässt.

        Im Verlauf des Tages bahnt sich die Sonne ihren Weg und wir erleben unseren schönsten Tag auf dem North Coast Trail. Doch die überschwängliche Stimmung wird ein wenig getrübt, denn heute sehen wir zum ersten Mal große Müllberge entlang der Strände. Später erfahren wir von Einheimischen, dass es sich um Unrat handelt, der vom Unglück in Fukushima stammt und nach wie vor an die Westküste Kanadas gespült wird. Regelmäßig packen Freiwillige den Müll in große stabile Säcke und Hubschrauber transportieren diese ab. Leider sieht es vier Wochen später wieder verheerend aus.

        Am frühen Nachmittag erreichen wir Shuttleworth Bight und überqueren Irony Creek, um zur offiziellen Campsite zu gelangen. Auf einem der vier gut geschützten Podeste bauen wir unser Zelt auf und freuen uns, auch hier wieder einen Bear Locker zu finden. Durch unsere frühe Ankunft können wir baden, Dutzende Fotos vom Treiben der Vögel schießen, unsere nassen Sachen trocknen und ausgiebig die Einsamkeit dieses Ortes intensiv in uns aufnehmen. Später erkunden wir den 2km langen – bei Surfern bestens bekannten – Sandstrand und entdecken zu unserer Freude eine „Devil’s Purse“ (Hülle für das Ei von Haien, Rochen und Chimären). Zur Krönung dieses perfekten Tages erleben wir einen unglaublich kitschigen, super romantischen Sonnenuntergang, der alles um uns herum gülden leuchten lässt. Herz, was willst du mehr?

        Tag 4: Shuttleworth Bight bis Laura Creek

        ... und da stehen wir wieder im peitschenden Regen und gehen gegen den prächtigen Schwarzbären in die Offensive. Zunächst plustern wir uns auf, werden um einige Zentimeter größer, wedeln mit unseren Stöcken in der Luft und bringen wilde Geräusche hervor. Meine Begleitung schlägt obendrein große Steine lautstark aufeinander. Minutenlang führen wir dieses Spektakel auf, ohne die kleinste Veränderung herbeizuführen. Der Bär kommt zwar nicht weiter auf uns zu, doch Leine zieht er auch nicht. Für einen Moment schießt mir eine Frage durch den Kopf: „Glöckchen. Ernsthaft?“.

        Sein vollständiges Desinteresse verleitet uns dazu, das Tier über die flachen, von der Ebbe freigelegten Felsen zu umgehen und das tobende Meer geflissentlich zu ignorieren. Gespannt halten wir den Bären im Blick und bewegen uns jederzeit rückzugsbereit über die Uferzone. Gerade, als wir direkt mit dem Bären auf einer Höhe sind, schaut er lächelnd – da bin ich mir 100%ig sicher – zu uns und verschwindet im dichten Unterholz des Regenwaldes. Von so viel Dreistigkeit schockiert, stehen wir für einen Moment wie angewurzelt da, bevor wir weiter Richtung Laura Creek gehen und den Morgen Revue passieren lassen.

        Der Tag beginnt durchwachsen. Im leichten Nieselregen folgen wir der Shuttleworth Bight, bis wir auf einen verendeten Seelöwen am Westende des Strandes stoßen. In einem Baumwipfel neben uns thront ein mächtiger Adler, der unsere Bewegungen kritisch beäugt. Um den großen Kadaver herum finden wir zahlreiche Wolfsspuren. Diese kennen wir mittlerweile gut, denn jeden Morgen entdecken wir ihre Fährte vor unserem Zelt, doch zu Gesicht bekommen wir die scheuen Tiere nicht. Wenig später gelangen wir zur zweiten und damit letzten Seilbahn des NCT, die uns über den Strandby River hilft. Die kurze Fahrt muntert uns ein wenig auf, doch bald hängen wir wieder unseren Gedanken nach und empfinden die steinigen Buchten und Strände ohne Sonnenschein abstoßend und bedrohlich.

        Ab den Mittagsstunden verschlechtert sich das Wetter zusehends, so dass wir den North Coast Trail in einer völlig neuen Qualität erleben. Bei Nässe wird der Trail erheblich anspruchsvoller, so dass wir nur langsam vorwärtskommen. Nach der Begegnung mit Meister Petz laufen wir noch bis zum Christensen Point und rasten hier für eine Weile. Gerade als wir aufbrechen wollen, stoßen zwei bekiffte Zeitgenossen zu uns. Sie laufen seit ein paar Tagen an der Küste auf und ab und haben neben Dope einen mehrspurigen, digitalen Audiorekorder im Gepäck. Wir erleben, wie sie allem Klänge entziehen – selbst uns – und erfahren, dass sie am Morgen von einem Schwarzbären heimgesucht wurden, der ihnen ihren Rucksack samt Gras geklaut hat. Nach kurzer Suche fanden sie ihren zerfetzten Rucksack wieder und machten sich schulterzuckend nichts weiter aus der Begegnung.

        Nach gut 12km und etwa 7 Stunden Gehzeit kommen wir am Strand von < an. Die Campsite mit 4 Podesten liegt 200m hinter dem Fluss und ist nicht so prall im Vergleich zu den bisherigen Camps. Für unseren Geschmack sind die Bear Locker zu nah an den Schlafplätzen. Der Strand ist hier besonders schmal und es liegen gewaltige Haufen stinkenden Seetangs herum. Falls Du in einer großen Gruppe reist, solltest Du früh hier ankommen, denn gute Spots sind rar. Vom Campen am Strand solltest Du absehen, um nicht von der Flut überrascht zu werden. Der Abend ist verregnet und kühl. Gemeinsam mit zwei Kanadiern gesellen wir uns unter unsere Tarps, entfachen ein Feuer und verkriechen uns nach einem frühen Abendessen in unsere herrlich warmen Daunenschlafsäcke.

        Tag 5: Laura Creek bis Nissen Bight

        Offiziell endet bzw. beginnt der North Coast Trail an der Nissen Bight, wobei es in den seltensten Fällen für Dich sinnvoll sein sollte, an diesem Strand zu schlafen. Es sind gerade einmal 7km von Laura Creek bis Nissen Bight. Mit Sicherheit ist Dein Rucksack spürbar leichter, so dass du bereits nach 3 bis 4 Stunden am Ziel bist. Von hier aus kannst Du entweder noch 5,8km bzw. 2 Stunden weiterlaufen, um an der wunderschönen und sehr beliebten Nels Bight zu übernachten. Das ist besonders dann sinnvoll, wenn du noch zur Hansen Lagoon, der Experiment Bay und zum Cape Scott Lighthouse wandern möchtest. Oder Du bringst die relativ eintönigen 15km bzw. 6 Stunden bis zur San Josef Bay hinter Dich, um am folgenden Tag mit dem Shuttle zurück nach Port Hardy zu reisen.

        Unser heutiges Tagesziel ist Nels Bight, da wir noch einige Tage hier im Cape Scott Provincial Park verbringen wollen. Zwar ist das Wetter nicht ganz so schlecht wie am Vortag, doch es regnet bis weit nach Mittag. Entsprechend schnell bringen wir den relativ einfachen Abschnitt – der die meiste Zeit durch altehrwürdigen Regenwald führt – hinter uns. Unsere Füße tragen uns über befestigte Wege und Brücken, die die europäischen Siedler aus schweren Balken für ihre Karren gefertigt haben. Unterwegs entdecken wir besonders schöne Exemplare sog. Ammenbäume (engl. „Nurse Trees“) und kommen am etwa 400m langen Laughing Loon Lake vorbei. Wenig später erreichen wir bei leichtem Nieselregen Nissen Bight und fallen uns glücklich in die Arme. Zwar sind unsere Hosen dick mit Schlamm verkrustet und unsere Mägen knurren, doch wir haben ohne nennenswerte Blessuren den North Coast Trail gemeistert. Viel gäbe es noch von den Abenteuern der darauffolgenden Tage zu erzählen. Doch das ist eine Geschichte für ein anderes Mal.

        Was bleibt?

        Als wir Tage später tiefenentspannt im „North Coast Trail Shuttle“ sitzen, bittet John alle Mitreisenden, sich ins dicke Gästebuch einzutragen. Wir sind als letzte an der Reihe und lesen zufällig den Kommentar der beiden jungen Frauen, die mit ihren kurzen Hosen und T-Shirts schlammverschmiert und bibbernd hinter uns sitzen: „Evil. Never ever again“. Sie haben den North Coast Trail bei starkem Regen in drei Tagen absolviert und haben es – so sagen sie – abgrundtief gehasst.

        Wir hingegen haben dank guter Planung, entsprechender Ausrüstung und ein wenig Glück mit dem Wetter ein einmaliges Abenteuer erleben dürfen und träumen bereits von noch wilderen Unternehmungen – wie bspw. dem Nootka Trail oder dem Hesquiat Peninsula Trail. Überdies ist es gut zu wissen, dass der Cape Scott Provincial Park existiert und damit die Holzindustrie, die im Süden ihr Unwesen treibt, von einem Clear Cut dieses artenreichen, gemäßigten Regenwaldes abhält. Die riesigen Mengen an Plastikmüll, die stetig an die Küste gespült werden und – wie wir später erfahren – das Massensterben der Seesterne haben uns dagegen sehr nachdenklich und traurig gestimmt.

        Buchempfehlung

        Sowohl im trockenen Zuhause als auch unterwegs im Morast ist der Guide "Cape Scott and the North Coast Trail - Hiking Vancouver Island's Wildest Coast" von unschätzbarer Hilfe. Das knapp 250 Seiten starke Büchlein enthält u.a. alle notwendigen Beschreibungen, Kontakte, Vorschläge für diverse Reisepläne und Karten. Auf den Karten sind nicht nur die Camps, sondern auch mögliche Trinkwasserquellen verzeichnet. Stell Dich darauf ein, dass das Buch am Ende aussieht wie Sau :)

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